Die Herausforderung:
Für viele Besucherinnen und Besucher ist Tübingen ein schönes Fachwerk-Ensemble, das man am Wochenende betrachtet und bestaunt.
Darüber können wir uns freuen, doch die sensible Balance der Altstadt-Nutzungen ist in Gefahr. Die Wohnqualität leidet, im Handel ist ein Trend zu uniformen Filialgeschäften
nicht zu übersehen; Leerstände wie am Marktplatz sind ein Alarmzeichen und auch bei den Kneipen häufen sich erschreckende
Nachrichten. Die Verlagerung von mehr als 600 Arbeitsplätzen von Landratsamt und Kreissparkasse an die Peripherie der Stadt hat diese Probleme erheblich verschärft.
Die Bewohnerinnen und Bewohner der Altstadt fühlen sich vor allem im Sommer zunehmend einer ‚Eventisierung‘ ausgeliefert,
die auch keine Rücksicht mehr auf die Nachtruhe nimmt. Die Oberbürgermeisterin hat dies zu der Bemerkung veranlasst, ein Haus am Marktplatz sei für junge Familien eben als Wohnort nicht geeignet. Aber auch Nutzungswünsche der Gastronomie und der Kultur bleiben unerfüllt. Das Afro-Brasil-Festival
ist nach Stuttgart ausgewandert, weil das Rathaus Verhandlungsoptionen nicht genutzt hat. Junge Leute gründen bereits Bürgerinitiativen,
weil in Tübingen nichts mehr los ist, während andere den Trubel nicht mehr ertragen
können. Am Wochenende ist die Sperrzeit um 23 Uhr im Außenbereich für viele Gäste zu restriktiv.
Zur Innenstadt gehört aber auch das Zentrum
Süd, vom Bahnhof bis zur Blauen Brücke.
Die Friedrichstraße ist die umsatzstärkste Einkaufszone in der Stadt. Hier liegt vieles im Argen. Der Europaplatz ist noch immer eine Asphaltwüste. Die Straßen im Zinser-Dreieck bieten keinerlei Aufenthaltsqualität. Am Neckarparkhaus
ist eine Hinterhofsituation entstanden,
an der Blauen Brücke werden die Gäste von einer Ruine begrüßt. Die Möglichkeiten, im Zentrum Süd rund um das Zinser-Dreieck Angebote zur Ergänzung der Altstadt zu schaffen,
werden nicht genutzt.
Das Programm für Tübingen:
Unser gemeinsames Anliegen muss sein, die Altstadt als pulsierendes Herz Tübingens für alle zu erhalten und weiter zu entwickeln: zum Einkaufen und für das Freizeitvergnügen genauso
wie als Ort zum Wohnen und Arbeiten. Wir müssen auf neue Bedürfnisse der Zeit die passenden Antworten finden. Keinesfalls darf die Altstadt zur malerischen Kulisse degenerieren:
Das Leben in der Altstadt muss für Familien
und ältere Menschen genauso möglich und attraktiv sein wie für Studierende.
Der Erhaltung der baulichen Substanz der Altstadt kommt überragende Bedeutung für Tübingen zu. Deshalb muss der Gesamtanlagenschutz
endlich in Kraft gesetzt werden. Damit
werden Investitionen auch in die bislang nicht denkmalgeschützten Gebäude in der Altstadt steuerlich begünstigt. Vor allem in der Unterstadt können dann viele Sanierungen erst beginnen.
Die überhand nehmenden Ruhestörungen müssen abgestellt werden. Lautes Schreien und Toben bei Nacht müssen nicht geduldet werden: Ab Mitternacht müssen Polizei und Ordnungskräfte der Stadt Ruhestörer ermahnen.
Dabei kann auch eine Verwarnung heilsame Wirkung entfalten. Genauso muss gegen das gedankenlose Wegwerfen von Verpackungsmüll, Zigarettenkippen und Getränkeflaschen
mit Bußgeldern vorgegangen werden: Wegsehen bei solchem Fehlverhalten ist Ausdruck falsch verstandener Toleranz. In der Haaggasse halte ich das bereits vor Jahren
diskutierte Nachtfahrverbot für überfällig.Wenn von Mitternacht bis sieben Uhr früh wieder
Regeln des vernünftigen und rücksichtsvollen
Umgangs gelten, kann andererseits über eine maßvolle Verkürzung von Sperrzeiten
diskutiert werden. Ich halte es für richtig, an ausgewählten Punkten und nach ausführlichen
Gesprächen mit den Anwohnern, Außengastronomie
am Freitag und Samstag bis Mitternacht zu gestatten – wenn danach auch wirklich Ruhe ist. Am Marktplatz wird es durch eine kürzere Sperrzeit im Sommer nicht lauter, denn das gesellige Zusammensein auf dem Pflaster hat sich ohnehin längst etabliert.
Handel und Gastronomie in der Altstadt brauchen bessere Rahmenbedingungen, um die Konkurrenz mit dem Außenbereich zu bestehen.
Dazu gehören behutsame Flexibilisierungen
bei Gaststätten-Lizenzen und mit dem Denkmalschutz verträgliche Umbauten zur Vergrößerung von Betriebsflächen genau so wie der Erhalt und die Ansiedlung von innerstädtischen
Arbeitsplätzen oder das Anbringen von Sitzbänken, damit Ältere sich zwischendurch
auch mal ausruhen können. Um mehr Kundschaft in die Geschäfte zu bringen, muss es neben der erfolgreichen Inszenierung von Erlebnis-Einkaufstagen gelingen, die Kaufkraftbindung
in Tübingen selbst zu erhöhen. Leider glauben viele Auswärtige, in Tübingen sei es schwer, einen Parkplatz zu finden. Tatsächlich
sind die Staus in der Reutlinger Innenstadt
länger und die Parkhäuser häufiger besetzt als in Tübingen. Es ist deshalb höchste Zeit, dass ein Parkleitsystem die Zahl der freien
Plätze anzeigt. Hilfreich wäre es auch, die wenig erklärenden Namen der Parkhäuser „Stadtgraben“ und „König“ in „Altstadt Ost“ und „Altstadt Nord“ zu ändern.
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Es müssen alle Chancen genutzt werden, attraktive neue Angebote in der Innenstadt zu platzieren. Allzu kühne Entwürfe (wie der Abriss
ganzer Häuserzeilen) behindern eher eine vernünftige Entwicklung. Gezielt in der Altstadt Flächen für neue Angebote zu nutzen, ist Teil einer Strategie zur Stärkung der Einkaufsstadt Tübingen, z. B. das alte Stadtwerke-Areal oder das Grundstück zwischen „Neckarmüller“ und Mühlstraße. Ganz entscheidend wird sein, die Altstadt mit dem Zentrum Süd zusammenzubringen
und dort ergänzende Nutzungen zu platzieren.
Dass die Planung für den Umbau des Busbahnhofs
und die Bebauung von über 5.000 Quadratmeter frei werdender Fläche seit zehn Jahren ruht, halte ich für einen schweren Fehler.
Reutlingen hat mit der „Müller-Galerie“, Stuttgart mit den „Königsbaupassagen“ oder Konstanz mit dem „Lago“ vorgemacht, wie man Magneten in die Städte bringt, die zusätzliche
Kundschaft für alle anderen anzieht. Das Zentrum Süd könnte ein solcher Magnet für die Altstadt werden.
Dafür muss der Europaplatz endlich umgebaut
werden! Die Nutzung des Baufensters
auf den bisherigen Busverkehrsflächen ist zu klären. Ein Kaufhausinvestor wird sich nicht mehr finden. Stattdessen sollte hier eine Mischung aus mittelgroßen Ladenflächen, Dienstleistungsarbeitsplätzen aber auch Wohnungen
in den höheren Geschossen mit Blick auf Anlagensee und Altstadt entstehen.
Mit dem Umbau des Busbahnhofs wird das Zinser-Dreieck weitgehend vom Busverkehr entlastet, die Karlstraße kann zur Fußgängerzone
werden, die Busspur in der Friedrichstraße
wird entbehrlich und es gibt Platz für die Anlage eines großzügigen, durchgrünten Stadtboulevards. Der Innenhof des Zinser-Dreiecks muss zu einer Wegeachse werden. Auch die vernachlässigte Wöhrdstraße wäre entsprechend aufzuwerten. Am Neckarparkhaus
müssen optische den Plattenbaueindruck
verschwinden lassen. Das oberste Deck könnte auch ganz anderen Zwecken zugeführt werden: Warum nicht den sehr erfolgreichen
Trend aufnehmen, und dort wie auf dem Kaufhof in Stuttgart eine Skybar mit Sandstrand und Blick auf Tübingens Schokoladenseite
einrichten? Durch Aufwertung der bislang nahezu unerreichbaren Uferzonen am Zusammenfluss von Neckar und Steinlach könnte aus dem Unteren Wöhrd ein Klein-Venedig
Tübingens werden – die Kähne haben wir ja schon.
In einem derart aufgewerteten Umfeld wird auch eine sinnvolle Nutzung der Ruine an der Blauen Brücke gelingen. Ich halte es für richtig, hier ein Hotel im Zwei-Sterne-Bereich zu errichten. Das weitgehend leer stehende Parkhaus Metropol wäre ein direkt angebundener,
ohne Errichtungskosten verfügbarer Parkraum. Im Zusammenhang mit der „Neuen
Messe“ am Flughafen wäre ein solches zentral gelegenes Hotel auch eine Chance für Tübingen, sich vom Messegeschäft ein größeres
Stück abzuschneiden.
Das so aufgewertete Zentrum Süd würde der Altstadt neue Impulse geben und manche Überbelastung abfedern. Deshalb muss diese Aufgabe vor der Ansiedlung von Einzelhandel am „Depot“ angepackt werden. Der Bedarf an neuen Handelsflächen ist begrenzt. Geplant
ist am „Depot“ ein reiner Autoeinkaufsstandort,
der die Innenstadt schwächt. Auch deshalb halte ich die - städtebaulich als Tor zur Südstadt ohnehin ungeeignete – Investorenplanung
am „Depot“ für völlig verfehlt. Die Speichergebäude sind mittlerweile getrennt
verkauft worden. Die angrenzende Fläche
sollte in kleinere Parzellen aufgeteilt und in Blockrandbebauung um einen Innenhof gruppiert werden, der Stadtqualität entfaltet, Wegebeziehungen vermittelt und nicht als Parkplatz missbraucht wird. Ein solches Konzept
ist nicht auf einen Großinvestor angewiesen
und muss deshalb auch nicht an dessen Interessen angepasst werden.
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