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9. Integration: Eine Stadt für alle
Integration

Die Herausforderung:

Tübingen ist eine internationale Stadt mit großer kultureller und ethnischer Vielfalt. In vielen Lebensbereichen, im Sport, an der Universität, in den Krankenhäusern und Altenheimen oder in der Gastronomie sind Menschen aus anderen Kulturen und Herkunftsländern bestens integrierte Mitbürger, Kollegen, geschätzte Gäste oder Gastgeber und manche sogar Stars. Die offene und internationale Atmosphäre ist auch ein zunehmend wichtigerer Standortfaktor.

Wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, muss sich jedoch eingestehen, dass auch in der vergleichsweise heilen Tübinger Welt die Integrationsprobleme wachsen. Auch in Tübingen gibt es Wohnviertel, in denen Migrantinnen und Migranten unter sich bleiben. Auch in Tübingen werden Kinder mit Migrationshintergrund in Hauptschulen ausgesondert und viel zu viele bleiben ohne einen Schulabschluss.

Auch in Tübingens Straßen kann man Jugendgruppen antreffen, die ausschließlich aus Einwanderer- oder Aussiedlerkindern bestehen und nicht selten ihren Frust durch Regelverstöße ausleben. Auch bei uns ist die Jugendarbeitslosigkeit unter Einwanderern der zweiten und dritten Generation überdurchschnittlich hoch.

In der Vergangenheit waren die vielen positiven Beispiele gelingenden Zusammenlebens von Menschen aus so vielen Nationen zu oft ein Grund, über die ebenso vorhandenen Probleme hinwegzusehen. In einer Stadt wie Stuttgart ist ohne diesen rosaroten Schleier die Integration bildungsferner Schichten eher besser geglückt als im bildungsbürgerlichen Tübingen. In Zukunft muss es darum gehen, die Probleme zu benennen, realistisch zu beschreiben und gemeinsam mit den vielen Menschen zu lösen, die aus dem Ausland gekommen und nun bei uns heimisch geworden sind.

Das Programm für Tübingen:

Wir sollten gemeinsam darangehen, Tübingen zu einer mustergültigen Stadt für Integration zu machen. Das Klima der Weltoffenheit und Toleranz, das die Stadt seit vielen Jahren prägt, ist dafür die beste Voraussetzung. Jetzt müssen wir uns eingestehen, wo dennoch Probleme entstanden sind und diese mit innovativen Lösungen angehen.

Integration ist eine Querschnittsaufgabe, die soziale und rechtliche Teilhabe voraussetzt. Integrationspolitik muss daher in den kommunalen Verwaltungen in allen Ressorts und Fachbereichen, bei allen Planungen und Entscheidungen berücksichtigt werden.

Ein Schlüssel zur Integration sind ausreichende Sprachkenntnisse. Diese werden am besten schon in frühen Jahren erworben. Deshalb müssen wir dafür werben, dass gerade Eltern, deren Deutschkenntnisse unvollkommen sind, ihre Kinder mit drei Jahren in den Kindergarten schicken. Die Erzieherinnen und Erzieher müssen so weitergebildet werden, dass sie den neuen Anforderungen der Sprachförderung entsprechen können.

Damit die Kinder Deutsch lernen, müssen auch die Eltern und ganz besonders die Mütter beim Spracherwerb unterstützt werden. Wenn Bund und Land dieser Aufgabe auch weiterhin nicht ausreichend nachkommen und entsprechende Zuschüsse kürzen, müssen wir hier finanzielle Vorleistungen bringen und die Bildungsträger, die Sprachkurse anbieten – zum Beispiel die Volkshochschule – stärker fördern.

Auch wenn die Landesregierung das nicht wahrhaben will: Das dreigliedrige Schulsystem ist ein Relikt der Dreiklassengesellschaft des 19. Jahrhunderts und völlig ungeeignet, die heutige Schülergeneration begabungsgerecht zu fördern. Die Stadt muss deshalb mit mehr Nachdruck darauf drängen, dass die Initiativen für integrative Schulmodelle in Tübingen (wie zum Beispiel die Französische Schule) eine Genehmigung des Kultusministeriums erhalten. Solange das Land von der strikten Dreigliedrigkeit des Schulsystems nicht abzubringen ist, sollte die Stadt mit den Schulen nach eigenen Wegen suchen, die soziale Kluft zu überwinden. Gemeinsame Schulfeste von Hauptschulen und Gymnasien, Patenschaften, Klassenraumtausch und Ähnliches sollten das Bewusstsein entstehen lassen, dass Hauptschüler nicht dumm und Gymnasiasten nicht arrogant sind.

Die Sommerferien bringen für Kinder, in deren Familien die Umgangssprache nicht Deutsch ist, häufig einen Verlust an Sprachkompetenz mit sich. Erhalten Grundschulkinder hingegen in den Sommerferien eine spezielle Förderung aus Deutschunterricht am Vormittag und Theaterprojekten am Nachmittag, so können sie ihre Sprachkompetenz zwischen den Schuljahren nicht nur erhalten, sondern auch deutlich verbessern. In Deutschland wurden die positiven Effekte solcher Sommercamps durch die wissenschaftliche Begleitung des „Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung“ bestätigt. Falls die Landesregierung die angekündigte Unterstützung solcher Sommercamps realisiert, müssen wir in Tübingen diese Mittel schon für das nächste Jahr abrufen. Der Tübinger Kindersommer muss gerade Kinder mit sprachlichen Defiziten, darunter möglicherweise auch Kinder aus bildungsfernen deutschen Familien, ins Blickfeld nehmen.

 

Leider erreichen viele Kinder mit Migrationshintergrund in den Hauptschulen nicht die Ausbildungsreife. Die Stadt Stuttgart hat vor drei Jahren in einem sehr erfolgreichen Modellprojekt in den Ruhestand getretene Seniorinnen und Senioren als Paten für solche Jugendliche gewonnen. Im den letzten Schuljahr zeigten die Älteren den Schülerinnen und Schülern, worauf es in der Berufswelt ankommt, und halfen bei der Prüfungsvorbereitung. Die Zahl der Vermittlungen in Ausbildungsplätze konnte dadurch deutlich erhöht werden. Ein solches Projekt zwischen den Generationen und den Kulturen sollten wir auch in Tübingen zusammen mit den Wirtschaftskammern und dem Seniorenrat so bald wie möglich starten.

Die Integrationskraft von Vereinen wird zu Recht immer wieder gelobt. Doch leider nehmen gerade die sozial Schwächsten selten am Vereinsleben teil, sie besuchen auch seltener eine Musikschule. Zum einen schrecken die Gebühren ab, zum anderen fehlt möglicherweise auch das Bewusstsein für den erzieherischen Nutzen. Durch den Ausbau der Bonus- Card zu einer Familienkarte und spezielle Anreize zur Anmeldung von Migrantenkindern in Vereinen und kulturellen Bildungseinrichtungen sollten wir diesen sozial-kulturellen Graben überwinden helfen.

Das Auftreten aggressiver und abgeschotteter Jugendcliquen überwiegend ausländischer Herkunft könnte mit einem solchen systematischen Ansatz vermieden werden. Solange es solche Problemgruppen gibt, muss die Stadt aktiv werden: Streetwork hat sich bei den Punks sehr bewährt. Wir brauchen mehr Schulsozial- und offene Jugendarbeit, um die Jugendlichen, die sich ausgeschlossen fühlen, wieder in die Gesellschaft zurückzuholen. Wo dies notwendig ist, muss allerdings auch auf Regelakzeptanz mit Ordnungskräften hingewirkt werden.

In Tübingen gibt es ein ausgeprägtes Vereinsleben von Migranten. Es muss unser Anliegen sein, es zu fördern und die Migranten und ihre Selbstorganisationen als Partner zu gewinnen. Die Bewältigung der oben skizzierten Herausforderungen liegt auch im Interesse der Migranten, schließlich handelt es sich auch um ihre Kinder und um ihre Stadt. Deshalb sollte auch der Wunsch nach Einrichtung einer Moschee unterstützt werden.

Wir müssen die Potenziale und Qualitäten der Migranten mit ins Blickfeld rücken. Sehr viele von ihnen wachsen von selbst zweisprachig auf. Die Kompetenz in der Herkunftssprache bleibt für die berufliche Entwicklung oft völlig ungenutzt. Zusammen mit den Konsulaten und den Kammern Projekte zur Ergänzung der Kenntnisse in der Umgangssprache durch das Beherrschen von Geschäfts-Türkisch oder Italienisch zu starten, wäre hier ein wichtiger Beitrag. Die Stadtverwaltung selbst sollte, dem Beispiel Bremens folgend, gezielt Menschen mit Migrationshintergrund einstellen. Das signalisiert den Einwandererkindern, dass Sie hier eine faire Chance bekommen und verbreitert die Kompetenz der Verwaltung.

Ältere Zuwanderer sind oft mit besonderen Problemen konfrontiert, weil sie nur einen beschränkten Zugang zu Informationen haben oder keine für sie angepassten Angebote vorfinden. Das betrifft vor allem Fragen zu Krankheiten und Pflege, aber auch die sensiblen Felder Sterbebegleitung und Bestattungskultur. Ich möchte deshalb ein Projekt „Migration und Alter“ ins Leben rufen, das bereits vorhandene Ansätze aufgreift und ausbaut. Ziel ist es, Menschen mit Migrationshintergrund über die Angebote und Zugangswege zu den Angeboten der Altenhilfe zu informieren und zu beraten. Gleichzeitig sollen die in der Altenhilfe tätigen Fachkräfte in ihrer Arbeit unterstützt werden, indem ihnen Informationen über die Lebenssituation, rechtliche Lage, Religion und kulturelle Besonderheiten der Einwanderer vermittelt werden. Zusätzlich verfolgt das Projekt das Ziel, Migrantinnen und Migranten für das Berufsfeld der Altenpflege zu interessieren.

„Ein ungerechtes Gesetz ist kein Gesetz“ befand schon der Kirchenvater Augustinus. Gesetze, die verlangen, dass in Deutschland geborene, hier aufgewachsene und bestens integrierte Kinder abgeschoben oder von ihren Eltern getrennt werden müssen, sind in diesem Sinne keine Gesetze. Ich werde als Oberbürgermeister die Ausländerbehörden der Stadt nicht mehr an unmenschlichen Abschiebungen mitwirken lassen. Sollte das Land weiterhin seine Rechtsauffassung an Tübinger Familien demonstrieren, muss es dafür in Zukunft den Streit vor Gericht in Kauf nehmen. Wenn dieser Weg in den Kommunen Schule macht, wird dies auch Druck auf eine längst überfällige Änderung des Rechts ausüben.

Deutschland ist Einwanderungsland – der Wandel zur aktiv gelebten und gestalteten Einwanderungsgesellschaft kann gerade in Tübingen gelingen. Lassen sie uns gemeinsam daran arbeiten.

 


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